Die Weltrevolution beginnt zu Hause

Zürcher Vorwärtsdenker haben eine utopische Schrift verfasst. Sie wollen nichts weniger, als die ganze Welt neu gestalten.

Beat Metzler, Tagesanzeiger vom 20. Oktober 2016

Es braucht keinen Umsturz, um die drängendsten Probleme unserer Zeit zu lösen. Es reicht, anders zu wohnen.

So lautet - stark vereinfacht - der Ansatz des Büchleins «Nach Hause kommen, Nachbarschaften als Commons». Verfasst haben es mehrere Autoren aus dem Umfeld des Vereins Neustart Schweiz. Dazu gehört Hans Widmer, besser bekannt unter dem Pseudonym P.M. Widmers 80er-Jahre-Schrift «bolobolo» hat die alternativen Zürcher Wohnbewegungen stark geprägt.

Das neue 150-Seiten-Büchlein will mehr, als in Städten marktbefreite Siedlungen schaffen. Die Autorinnen wagen sich an die ganz grossen Probleme: den zu hohen Verbrauch von Land und Rohstoffen; die steigenden Bodenpreise, welche die ärmeren Menschen aus den Städten drängen; eine Wirtschaft, die zu viele Superreiche und Finanzkrisen hervorbringt; die Automatisierung des Arbeitslebens, die wohl eine Menge Jobs überflüssig machen wird.
Länder braucht es nicht mehr:

Das Ziel des Büchleins ist nichts weniger als eine Neuordnung der Welt. Diese soll wieder «enkeltauglich» werden. Die Autoren setzen dabei nicht wie üblich an den grossen Systemen an. Sie gehen vom Kleinen aus, von der einzelnen «Nachbarschaft», die sie als Keimzelle der Veränderung betrachten. Nachbarschaften sind dichte, städtische Wohneinheiten, ein grosser Blockrand zum Beispiel, wo zwischen 350 und 800 Leute leben. Sie bieten verschiedenste Wohnformen für verschiedenste Menschen, dazu gibt es Läden, Cafés, Kinderbetreuungsstätten. Zu jeder Nachbarschaft gehört ein grosser Bauernhof in der näheren Umgebung, der für die Grundversorgung mit Lebensmitteln aufkommt.

Mit ihrer Nachbarschaft können sich die Bewohner identifizieren, sie bildet die Heimat der Menschen. Eine Vorform davon wären in Zürich etwa die Genossenschaften Kalkbreite oder Kraftwerk.

Aus den Nachbarschaftseinheiten wollen die Autorinnen die Welt neu zusammensetzen. Dieses modulare Organisationsprinzip soll die meisten bisherigen Strukturen überflüssig machen. Mehrere Nachbarschaften zusammen formen ein Quartier (rund 10 000 Einwohner), diese wiederum bilden Städte, die sich zu «Territorien» zusammenschliessen. Diese, etwa gleich gross wie die heutige Schweiz, sollen die bisherigen Staaten ersetzen.

Parallel zur Vernachbarschaftung würde auch das weltweit dominante Wirtschaftsform umgestaltet. Das Privateigentum ginge zurück. Alle wichtigen Bereiche würden zu «Commons» umorganisiert, einer gemeinschaftlichen Eigentumsform, die etwa in der Mitte zwischen Privat- und Staatseigentum liegt. Genossenschaften funktionieren bereits heute auf solche Weise.

Die Autoren gehen von einem langsamen Wandel aus, der alle Probleme schrittweise ausschaltet. Obwohl in der neuen Nachbarschaftswelt viel weniger verbraucht und gereist würde als heute, müsste dank der geschickten Lebensgestaltung niemand auf etwas verzichten.

Das schmale Buch überläuft fast vor Ideen. Und es macht wilde Sprünge, von der Verstädterung der Schweizer Agglomerationen zur Umgestaltung der Weltwirtschaft und dann zurück zur Neuüberbauung des Zürcher Carparkplatzes. Gleichzeitig versuchen die Autoren präzis zu bleiben, wenn sie etwa vorrechnen, aus wie vielen Nachbarschaften die Welt bestehen würde.

Man kann das dichte Programm als überehrgeizig und fantastisch abtun. Oder man freut sich über eine Utopie, die mit einer Quartierinitiative in Leutschenbach startet statt mit neuen Algorithmen aus dem Silicon Valley.

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