Die Commons und die Nachbarschaft

von p.m.

Im Jahr 1955 haben Max Frisch, (1911-1991), Lucius Burckhardt (1925-2003) und Markus Kutter (1925-2005) ihr Pamphlet Achtung: die Schweiz! veröffentlicht. Rückblickend ist das Jahr 1955 der historische Kipppunkt, ab dem die Schweiz zur Auto- und Konsumgesellschaft wurde. Die erste Autobahn war noch nicht gebaut. 1955 lebte ich als kleiner Bub noch in der 1500-Watt-Gesellschaft – ohne bleibende Schäden, so hoffe ich. Inzwischen hat sich unser Energieverbrauch versechsfacht (wenn man von 9000 Watt ausgeht) und ist jenseits aller global nachhaltigen Verträglichkeit. Max Frisch hat diese Zukunft kommen sehen. Was er ihr entgegen stellte, war allerdings relativ harmlos, ein netter Normalkapitalismus, eine fussgängerfreundliche Gartenstadt von um die 15'000 Bewohnern. Sie sollte mit Krediten finanziert werden und rentieren. Neue gesellschaftliche Strukturen, etwa Genossenschaften, waren nicht vorgesehen, was damals von der linken Presse kritisiert wurde. Die liberale Presse wiederum – die NZZ – fürchtete den in der Schrift ausgedrückten Aufbruchston, der mit der immer noch vorherrschenden Landi-Nostalgie kontrastierte. Die Expo 63 zeigte dann Panzer, Düsenflugzeuge und jede Menge neue technische Gadgets, zum Beispiel einen Gesinnungsprüfungscomputer. Eine Antwort auf die Auto- und Konsumschwemme war nicht in Sicht. Die Zukunft war noch ok. Im Jahr 2000 würden wir alle unsere Privathelikopter haben und Ferien auf dem Mars machen.

Für die Expo.01 habe ich damals zusammen mit Andreas Hofer, Daniel de Roulet und Sergio Agustoni ein Konzept namens Rostkreuz, La croix rouillée, La croce arrugginita, vorgeschlagen. Auf 12 Industriebrachen in allen Landesteilen der Schweiz sollten experimentelle, ökologische und konviviale Nachbarschaftssiedlungen für je 500 Bewohner gebaut werden, die zugleich als Hotels und Praktikumslabors dienen würden. Diese Modellnachbarschaften sollten die Bürger für einen ökologischen Umbau des Landes inspirieren und zugleich das nötige Know How testen oder produzieren. Jeder Schweizer hätte ein GA für eine Woche bekommen um sie zu besuchen oder dort zu wohnen und mitzuarbeiten. Unsere Expo .01 hätte ein Jahr gedauert, und die Projekte wären als dauerhaft genutzte Bauten erhalten geblieben. 6000 Menschen würden heute darin wohnen und arbeiten. Investitionskosten: ca. 1,2 Milliarden. Wir vier fanden die Idee damals ziemlich normal. Doch der Vorschlag hatte nicht einmal bei den alternativen Banken und Organisationen eine Chance. Ich erinnere mich noch, wie Simonetta Sommaruga damals in Olten nur den Kopf schüttelte. Vielleicht war unser Vorschlag zu vernünftig. Die Expo .02 machte sich dann zwar lustig über die Konsumgesellschaft, aber eine Alternative mochte sie nicht bieten. Die Zukunft war nicht mehr ok, aber das schien niemanden gross zu kümmern. Nach 2002 folgten sich die Krisen, Kriege und Katastrophen in immer kürzeren Abständen.

Aufbruch und Schweiz: das sind offensichtlich zwei Dinge, die nicht zusammengehen. Der einzige Aufbruch, den wir erlebt haben, ereignete sich um das Jahr 1800, und er wurde uns von Napoleon aufgezwungen. Der Preis war hoch: zehntausend junge Männer starben in Kriegsdiensten.

Heute fragen wir uns wohl eher: ist ein Aufbruch überhaupt noch wünschbar? Kann die Schweiz ihn überhaupt verkraften? Sollter wir nicht die Ressourcen eher schonen statt strapazieren? Zudem bleibt uns wenig Zeit für umfassende Erneuerungen. Es geht nicht mehr hauptsächlich darum zukunftsweisende Siedlungen zu erstellen, sondern die bestehenden Bauten notdürftig zu ökologisieren und so einzurichten, dass wir die kommenden Krisen und Kollapse einigermassen unbeschadet überleben können. Wir haben nicht mehr genug Energie um uns vorrangig mit Hardware zu befassen.

Wir brauchen Arrangements, Verknüpfungen, Verdichtungen, Improvisationen, Behelfskonstruktionen in Lücken und Nischen, um aus weniger genug zu machen. Es könnte sich sogar herausstellen, dass dieses Genug ein genussreicheres Leben als heute ermöglichen könnte. Doch das kann niemand wirklich garantieren. Wir müssen froh sein, wenn es überhaupt geht. Die grosse Geste ist nicht mehr gefragt. Aber der Verzicht auf sie wäre auch so etwas wie ein Aufbruch.

Inzwischen reden wir von 40 verlorenen Jahren – gerechnet ab dem Jahr 1972, als der Bericht Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome veröffentlicht wurde. Haben wir diese Jahre verloren – oder waren sie notwendig, damit wir heute endlich entschlossen handeln können?

Da wir alle möglichen Aufbrüche verpasst und uns in pfadabhängige Sackgassen begeben haben, müssen wir nun versuchen aus der Klemme herauszukommen, den Scherbenhaufen aufzuräumen und eine Art historisches Recycling einzuleiten. Einige nennen das die Postwachstumsgesellschaft – das ist mir ein bisschen zu negativ und zu ökonomisch-technisch. Es klingt allzu harmlos: ein Kapitalismus, der nicht wächst, schrumpft nicht, er kollabiert. Wenn wir die aufgelaufenen Schulden – und daraus besteht ja das Kapital - bezahlen wollen, dann müssen wir kräftig wachsen, und das noch auf Jahrzehnte hinaus, Klima hin oder her. Wer nicht ans zukünftige Wachstum glaubt, entwertet die heutigen Schulden. Nach dem Wachstum haben wir also nicht einfach das Gleiche wie heute, nur kleiner, sondern etwas ganz anderes. Aber was? 

Dieses Andere kann nicht mehr die Marktwirtschaft sein. Dieses System besteht zunehmend aus Manifestationen von Marktversagen, das dann durch staatliche Eingriffe korrigiert werden muss, was wiederum als Staatsversagen durchschlägt. Das Gemeinwohl kann heute nicht mehr oder nicht mehr in diesem Ausmass den Fluktuationen von Märkten überlassen werden.

Ich möchte hier auf eine detaillierte Kritik der Marktwirtschaft verzichten. Eine Kombination von Peak Oil, der Erschöpfung anderer Ressourcen und des Kollapses der Ökosysteme wird eine radikale Umstellung zu einem Sachzwang machen. Spätestens im Jahr 2020.

Wie könnte also das Leben jenseits der Wachstums- und Marktwirtschaft aussehen?

Als erstes müssten wir unseren ökonomistisch verdrehten Blick neu einstellen. Statt als Homo oeconomicus mit der geschliffenen Machete in der Hand im Marktdschungel unseren Lebensunterhalt zu erobern und dabei den Dschungel und uns selbst kaputt zu machen, sollten wir davon ausgehen, dass von allem genug da ist, und dass es darum geht, es den Bedürfnissen entsprechend unter uns zu verteilen.

Alle Fachleute stimmen darin überein, dass es genug Lebensmittel gibt. Aktuell werfen wir 50 % vor dem Verzehr fort. Es gibt genug Energie für ein gutes Leben für alle, es gibt genug Wasser, genug Mineralien, vor allem wenn wir noch den Schrottberg dazu nehmen, der heute in Form von Autos noch herumfährt.

Kooperieren und Teilen ist ein sehr altes Verfahren, und die Menschen wenden es spontan an, wenn man sie nicht daran hindert. Das Modewort dafür heisst heute Commons oder Commoning, ein sozialer Metabolismus, der auf der Herstellung, Bewahrung und Nutzung von Gemeingütern beruht. Wenn man es genau anschaut, gehört dazu fast alles. Allein schaffen wir praktisch nichts. Menschen kooperieren, wenn man sie lässt. Das belegt die Forschung.

Und doch ist es nicht einfach. Man kann nicht einfach schreien: Commons und schon geht das neue Zeitalter los.

Die Commons können nicht als Selbstbedienungsladen funktionieren. In kleinen Gruppen können sie noch spontan funktionieren, zum Beispiel zu Hause oder in traditionellen Bauerndörfern. Heute brauchen sie definierte Strukturen, Institutionen, eine bestimmte Form. Die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom, die kürzlich verstorben ist, hat sieben Regeln für solche Institutionen der Commons aufgestellt. Ich zitiere sie immer wieder gerne:

  1. Klar definierte Grenzen und einen wirksamen Ausschluss von externen Nichtberechtigten.
  2. Regeln bezüglich der Aneignung und der Bereitstellung der Allmenderessourcen müssen den lokalen Bedingungen angepasst sein.
  3. Die Nutzer können an Vereinbarungen zur Änderung der Regeln teilnehmen, so dass eine bessere Anpassung an sich ändernde Bedingungen ermöglicht wird.
  4. Überwachung der Einhaltung der Regeln.
  5. Abgestufte Sanktionsmöglichkeiten bei Regelverstößen.
  6. Mechanismen zur Konfliktlösung.
  7. Die Selbstbestimmung der Gemeinde wird durch übergeordnete Regierungsstellen anerkannt.»

Die Regeln sind nicht gerade «nett», eher hart und fair. Es gehören nicht einfach alle dazu. Es geht nicht ohne Überwachung und Sanktionen. Es geht vor allem nicht einfach spontan.

Ich möchte besonders auf Regel sieben hinweisen, die eine Einbettung kleinerer Module in grosse postuliert. Sie soll verhindern, dass lokale Lebenswelten sich abschliessen und schliesslich sogar miteinander in Konkurrenz geraten. Es gibt keine rein lokalen Commons. Darauf komme ich noch zurück.

Solche Institutionen sind nicht utopisch, es gibt es heute schon, in Form der Genossenschaften. Ich zitiere aus den Statuten einer bestehenden Genossenschaft:

«Die Genossenschaft bezweckt in gemeinsamer Selbsthilfe und Mitverantwortung ihren Mitgliedern preisgünstigen Raum für Wohnen, Arbeiten und öffentliche Nutzungen zu verschaffen und zu erhalten. Die Genossenschaft schafft nachhaltige Strukturen, welche selbstverwaltete, sichere, ökologische und gemeinschaftliche Wohn-, Arbeits- und Lebensformen ermöglichen.»

Wir haben ja das Jahr der Genossenschaften. Das Motto könnte lauten: in gemeinsamer Selbsthilfe und Mitverantwortung. Das funktioniert.

Hier geht es um das Gemeingut Wohnen, es könnte leicht auch auf Ernährung, Kleidung, Möbel, Unterhaltungselektronik, ausgeweitet werden. Im Falle der Ernährung können folgende Statuten der Inspiration dienen:

«Zweck der Genossenschaft ist ein landwirtschaftlicher Betrieb, der durch einen Zusammenschluss von ProduzentInnen und KonsumentInnen in Kooperation selbst verwaltet und selbst gestaltet geführt wird, um die GenossenschafterInnen mit ihren eigenen Produkten zu versorgen. Der Anbau erfolgt nach den Erkenntnissen und Richtlinien der BioSuisse. 

Folgende Leitsätze liegen den Aktivitäten der «Genossenschaft ortoloco – Die regionale Gartenkooperative» zugrunde: 

  • Mit der Natur und Umwelt gehen wir respektvoll und nachhaltig um. Boden, Pflanzen und Tiere sind keine Maschinen, die beliebig auf Touren gehalten werden können. In diesem Sinn sind wir eine Alternative zur industrialisierten Landwirtschaft mit ihren gesichtslosen, grossflächigen Riesenbetrieben.
  • Landwirtschaft ist für uns ein Pflege- statt ein Business-Bereich. Wir produzieren saisonal und forcieren kein genormtes Gemüse. D.h. wir ernten, was es gibt, nicht was sich finanziell lohnt. Wir entziehen einen wichtigen Lebensbereich der Spekulations- und Profitsphäre und wirken damit der vorherrschenden Wirtschaftslogik mit ihrem Wachstumszwang entgegen. Wir setzen eine mögliche alternative Wirtschaftsorganisierung um, die auf produktiver Kooperation statt auf kontraproduktiver Konkurrenz basiert. Damit sollen bäuerliche Kleinstrukturen erhalten bleiben können.
  • Die heutzutage entfremdete Beziehung zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen wird aufgehoben. Ernährung soll vor Ort geschehen und mit nur minimalen Importen möglich sein. Der Zwischenhandel wird ausgeschaltet. Durch diesen direkten, persönlichen Austausch zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen stellt das Projekt ein nachhaltiges Zukunftsmodell dar. Die KonsumentInnen sind motiviert und interessiert, sich Kenntnisse über ihre Lebensmittel und deren Entstehung und Eigenschaften anzueignen. Sie wollen lernen und immer wieder interessante und lustvolle Tage im Freien auf dem Feld verbringen. Dadurch erhöht sich ihre Lebensqualität.»

Das Genossenschaftsprinzip liegt auch den modernen demokratischen Staaten zu Grunde. 

Ich zitiere hier wieder aus unseren Statuten – der Bundesverfassung:

  1. «Sie fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes.»
  2. «Sie sorgt für eine möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern.»
  3. «Sie setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung.»

Gut: sorgt, fördert, setzt sich ein – alles zahnlose Kann-Formeln. Aber immerhin, die Ziele sind da.

Jeder trägt bei, was er kann – in Form einer möglichst gerechten, das heisst einkommensabhängigen, Besteuerung – jeder hat unabhängig von der Grösse seines Beitrags die gleichen Mitwirkungsrechte – one man, one vote – und alle haben ein Anrecht auf die öffentlichen Dienstleistungen, die man gemeinsam beschlossen hat.

Genossenschaften haben ihre Probleme, sie sind vielleicht etwas langsam und hängen sehr vom Bildungsstand ihrer Mitglieder ab, aber sie funktionieren nachhaltig. Sie tragen zur Entschleunigung bei. Sie produzieren keine grossen Krisen.

Selbst rechts regierte Staaten beruhen immer noch auf diesem Genossenschaftsprinzip, gerade wenn sie fähig sein sollen Marktversager zu retten. Die Angriffe der neoliberalen oligarchischen Kräfte auf den Staat als solchen sind also verständlich: der Staat widerspricht in sich dem Marktcredo. Er ist ein Skandal. Es darf keine Solidarität, keinen Einkommensausgleich geben. Menschen kooperieren nicht, sie konkurrenzieren sich. So lautet das Credo. Wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse gezielt vergiftet, wird es wahr. Maggie Thatcher ging sogar noch einen Schritt weiter: es gibt nicht einmal eine Gesellschaft. There is no society, there are only individuals. And there is no alternative.

In Wirklichkeit hätte sich ohne das staatliche, gemeinwirtschaftliche Korrektiv die industrielle Marktwirtschaft gar nicht entwickeln können. Und auch Thatchers Grossprojekte, wie der Millennium-Dom, mussten dann mit Staatsgeldern gerettet werden. Schon im frühen 19. Jahrhundert musste zum Beispiel der englische Staat mit den Korngesetzen, der Armengesetzgebung und der expansiven Kolonialpolitik immer wieder die Marktwirtschaft retten. Ohne die Fabrikgesetzgebung hätten die Kapitalisten innert weniger Jahrzehnte die Arbeitskräfte ruiniert, die sie ausbeuten wollten.

Es ist bezeichnend, dass die heutige Finanzkrise vor allem Länder trifft, die einen schwachen Staat haben und auch sonst wenig gemeinwirtschaftliche Strukturen. Griechenland ist ein gutes Beispiel, es ist eigentlich ein liberales Musterland mit einem extrem wuchernden Kleinunternehmertum. Schweden, Dänemark und andere nordische Staaten, die mehr auf gemeinwirtschaftliche Modelle setzen, haben kaum Probleme.

Das griechische Wort für Demokratie basiert auf demos=Gemeinde, heisst also eigentlich Gemeindeherrschaft. Wo Demokratie zur diffusen Volksherrschaft wird, hat der Zersetzungsprozess schon begonnen. Was dieser demos heute sein könnte, darauf komme ich gleich.

Die aktuelle Schuldenkrise ist vor allem ein Hebel um die Staaten auszuhungern und die Sozialsysteme zu demontieren.

Einen Aufbruch gibt es nicht, heisst das, dass es keine Hoffnung gibt? Ich glaube es nicht, die Situation ist nicht so schwarz und weiss, wie einige es behaupten.

Wir haben es in allen Industriestaaten mit gemischten Systemen zu tun. Bei einem Zusammenbruch der Marktwirtschaft wird sich im Wesentlichen nur das Mischungsverhältnis verändern. Es braucht keine neuen Systeme. Es ist alles schon vorhanden. Allerdings ist diese Veränderung des Mischungsverhältnisses nicht so harmlos, wie das jetzt klingt. Es könnte den Unterschied zwischen einer einseitig oligarchischen und einer wirklich demokratischen Gemeinwirtschaft ausmachen. Es gibt dabei einen Kipppunkt, wo eben eine Wirtschaftsordnung vorwiegend dem Gemeinwohl dient und nicht mehr den Interessen einer Minderheit von Finanzoligarchen.

Dass sich manchmal die rechten Staatsfeinde mit schlecht beratenen Anarchisten im gleichen Boot befinden, beruht auf einem Missverständnis des heutigen Staates. Er ist längst nicht mehr der reine Repressionsapparat, der er im 19. Jahrhundert war, als die anarchistischen Theoretiker lebten. Heute geht es nicht mehr um die Abschaffung des Staates, sondern um die Stärkung seiner demokratischen, genossenschaftlichen Züge. Irgendwann erreicht dieser Prozess den Punkt, wo er für die Finanzoligarchie nicht mehr tragbar ist. Es scheint, dass wir heute nahe daran sind. Überall wird heute mit Kapital- bzw. Steuerflucht gedroht, doch die Fluchtpunkte werden immer rarer. Die Schweiz gehört noch zu diesen Fluchtorten, doch die Probleme beginnen sich auch hier zu häufen. Das Fluchtkapital droht die Schweizer Industrie über den Umweg der Devisenkurse zu ersticken. Nichts ist sicher auf dieser Welt, schon gar nicht die Schweiz. Unsere eigenen Ressourcen bestehen in Wasser, Geröll, Gras und gut ausgebildeten Leuten. Ob das reicht?

Institutionen der Commons müssen der natürlichen Umgebung, den produktiven Ressourcen und der Tragfähigkeit von Territorien angepasst sein. Wir können sie als immer weitere Kreise von geringerer Intensität verstehen, von der lokalen bis zur globalen Reichweite.

Der Zusammenbruch der Marktwirtschaft braucht uns keine Angst zu machen. Für einen Übergang sind alle nötigen Institutionen schon bereit oder werden gerade experimentell erprobt. Es geht dabei nicht darum, das heutige System einfach durch ein anderes zu ersetzen. Für eine systemische Stabilität braucht es im Gegenteil mehrere unabhängige Kreisläufe.

Ich sehe hier – ganz pragmatisch – folgendes Szenario für eine Abwicklung:

Für die Infrastruktur und die Herstellung existentiell notwendiger industrieller Güter kann der heutige Staat zu einer Institution einer umfassenden öffentlichen Dienstleistung umgebaut werden. Er würde als Quasi-Genossenschaft noch weiter ausgebaut. In der jüngsten Krise haben wir erlebt, wie genau dieser anti-liberale Sündenfall überall eingetreten ist. Sogar in den superliberalen USA wurde die Autokonzern GM vom Staat übernommen und gerettet. Bei uns machten wir das mit der UBS. In den 30-er Jahren übernahm die Stadt Zürich den damals grössten Industriebetrieb, Escher-Wyss. In der Landwirtschaft hat der Staat schon lange die Regie übernommen, im Gesundheitswesen sowieso. 

Im Unterschied zur sozialistischen Kommandowirtschaft, deren Scheitern uns immer noch als Schreckgespenst vorgehalten wird, geht es hier um eine demokratisch organisierte Struktur, die sich auf die Bedürfnisse aller Beteiligten abstützt, die transparent ist und auf öffentlicher Rechnungslegung basiert. In der Schweiz funktioniert das gut, wo der Staat allerdings autoritär regiert wird, ist das Scheitern programmiert.

Der so genannte Staatsanteil, der heute schon um die 40 % beträgt, würde vielleicht auf 65 % ansteigen – absolut aber schrumpfen. Auch das Ausmass der heutigen öffentlichen Dienstleistungen ist nicht zukunftsfähig. Der Genossenschaftsstaat würde nur jene Aufgaben übernehmen, die lokale Gemeinschaften nicht erbringen können. Es gilt das Subsidiaritätsprinzip. 

Als zweites Standbein einer Postwachstumsgesellschaft sehe ich Subsistenzgemeinschaften auf Nachbarschaftsebene, die zugleich die Lebensmittelproduktion erbringen. Dazu später noch mehr. Dieser Kreis kann um einen Sechstel der wirtschaftlich notwendigen Leistungen erbringen.

Als dritter Sektor bleibt der Rest. Ich nenne das den kreativ-kooperativen Sektor, der nur ökologische und soziale Rahmenbedingungen einhalten muss, sonst aber frei agieren kann. Wenn der Lebensunterhalt gesichert ist, entsteht ein von ökonomischen Zwängen – zum Beispiel Rendite – befreites Spielfeld, wo verschiedenste Produktions- und Austauschformen erprobt werden können: Geschenke, Open Source, offene Werkstätten, Reparatur-Cafés, Tauschmärkte, Jahrmärkte, Basare usw. 

Selbstverständlich sind diese drei Kreise territorial verankert: der Genossenschaftsstaat funktioniert am besten auf mittelgrossen Territorien, die verkehrsmässig ohne grossen Energieaufwand integriert werden können. Direkte Demokratie braucht kleinere Länder wie die Schweiz, Griechenland, Estland, Sri Lanka usw. Hier kann die politische Eigendynamik nicht so leicht ausser Kontrolle geraten. Das Misstrauen vieler Bürger in Grossnationen, gegenüber Washington, Berlin oder Paris, ist durchaus berechtigt.

Statt Grossnationen brauchen wir eher subkontinentale oder globale Zweckverbände, die auf der Basis von Genossenschaften, deren Mitglieder kleine Länder sind, aufgebaut werden können. Nur in einem solchen Rahmen können High Tech-Produkte und gewisse industrielle Module effizient hergestellt werden. Ob wir es schaffen werden, globale Organe entwickeln zu können, hängt wesentlich von der Demontage von Grossnationen und der Demokratisierung in kleineren Territorien ab. Die EU sollte gerade dies zu ihrem Programm machen. Vielleicht braucht sie dafür eine Neugründung, an der wir uns dann gerne beteiligen werden.

Die Dreiteilung der Commons ist notwendig um keine einseitigen Abhängigkeiten aufkommen zu lassen. Weder soll der Staat allzu mächtig werden – auch wenn er schlanker und demokratischer wird, noch soll die Subsistenz der Nachbarschaften isoliert funktionieren. Und ein unregulierter Rest sorgt dafür, dass immer wieder neue Impulse gegeben werden können.

Wie würde das Leben in einer solchen Gesellschaft von eingebetteten Institutionen aussehen?

Nicht radikal verschieden von unserem heutigen. Es würde sich aber einige Proportionen und Modalitäten ändern. So hätten wir logischerweise alle zwei bis drei Aktivitätsbereiche:

  • eine professionelle Betätigung im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, vielleicht 20 Stunden pro Woche
  • Mitarbeit in der Nachbarschaft: vielleicht 4 Stunden pro Woche
  • freie Aktivitäten, wenn wir sie wollen und soviel wir wollen

All diese Tätigkeiten könnten flexibel organisiert werden: ein halbes Jahr intensive Berufsarbeit, dafür keine Mitarbeit in der Nachbarschaft. Dann einige Wochen Landarbeit. Dann ein Jahr Sabbatical für eine Weltreise – per Schiff. Das Ende der Konsumgesellschaft ist in einem gewissen Sinn auch das Ende der Lohngesellschaft. Lohn ist eine Verteilungsregel, die heute auf unfairen Grundlagen beruht. Wer stärker und klüger ist und daher mehr leistet, sollte dafür nicht belohnt werden: er hat einfach in der genetischen Lotterie gewonnen. Wer eine bessere Ausbildung hat, verdankt diese einem Common, dem öffentlichen Bildungswesen, und kann auch dafür keinen höheren Lohn verlangen. Belohnt werden kann allenfalls ein besonderer Einsatz oder das Übernehmen besonders heikler oder unangenehmer Arbeiten.

Damit all das funktioniert, braucht es sicher Regeln, die Verpflichtungen und Rechte festlegen. Landwirtschaft funktioniert nicht nach Lust und Laune, industrielle oder Forschungsprojekte schon gar nicht. Diese Regeln gibt es, und sie funktionieren. Die Verwaltung in meiner Wohngenossenschaft ist besser als es jene in einem Privathaus war. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Regeln im öffentlichen Sektor schlechter funktionieren als im privaten. Die ZKB hat sich in der Finanzkrise nicht unverantwortlicher verhalten als die UBS. Die SBB sind pünktlicher als die Privatbahnen in England. Die Migros ist besser als Aldi.

Ich möchte jetzt diesen nur skizzierten Ausblick verlassen und zu konkreteren Vorschlägen kommen.

Ein wichtiges Prinzip bei der Konstruktion dieser Institutionen ist die relative Nähe, ohne die Selbstverwaltung und Selbstverantwortung nicht machbar sind. Erst Nähe ermöglicht Teilen und gemeinsames Benutzen. Serge Latouche nennt das Relokalisierung. Ein grosser Teil unseres heutigen Energieverbrauchs beruht auf Distanzierungen. Wenn man Massen über Distanzen verschiebt, verbraucht man eben Energie, das haben wir in der Sekundarschule schon gelernt. Wir haben Arbeiten und Wohnen, Erholung, Einkaufen usw. immer weiter distanziert. Wir haben uns aber auch von unseren Mitmenschen distanziert. Vor 40 Jahren war der Wohnflächenbedarf noch bei ca. 30m2, heute tendiert er gegen 50 (mindestens bei Schweizern, bei Türken und Tamilen ist er nur 21m2). Wenn man diese Fläche als Quadrat rechnet und dann die Wurzel davon halbiert, dann hat sich die durchschnittliche Distanz zwischen uns von 3 auf 3,5 m vergrössert, wir sind also alle einen Meter von einander weggerückt. Das scheint wenig, wenn man das aber auf sieben Millionen Menschen umrechnet, so hat man ein rasch expandierendes Universum vor sich. Das geheizt werden muss.

Wenn Distanzen durch geteilte, nahe Nutzungen verringert werden, dann sinkt der Energiebedarf. Ein einfaches Beispiel: wenn Sie allein unter einer 100-Watt-Lampe sitzen, verbrauchen Sie 100 Watt, wenn Sie zu zweit darunter sitzen, nur noch 50 Watt. (Wenn man die Lampe ganz ausknipst, sind es noch Null Watt, allein oder zu zweit spielt keine Rolle. Letzteres soll aber mehr Spass machen, habe ich gehört.) 

Informationstechnologien hätten in diesem Rahmen ein grosses Potential. Das habe ich ja schon 1982 in bolo’bolo erwähnt. Heute tragen sie kaum etwas zur Verringerung der Umweltbelastung bei, weil die Ausweitung der Anwendungen immer wieder die Effizienzeffekte auffrisst. Stichwort: papierloses Büro.

Wohnen macht 24,4% unserer Umweltbelastung aus, die Ernährung 28%, die private Mobilität 12,2%. Das ist 2/3 unserer Umweltbelastung – es lohnt sich, da anzusetzen.

Unser altes Betriebssystem basiert darauf, dass das Kapital wachsen muss, aber nur wachsen kann, wenn es sich über einen Umweg durch den Konsum verwertet. Der Konsum geht letztlich durch unsere Haushalte, weil dort auch unsere Einkommen anfallen. Der Konsum in den Haushalten ist der Jungbrunnen des Kapitals, das sich so erhält und erneuert.

Als erste viel versprechende Institution der Commons sehe ich daher die Nachbarschaften, wo sich ja die Haushalte befinden. Sie sind der Rahmen, wo Konsum reduziert werden kann, ohne dass der Wohlstand sinkt. Um diese Institution sinnlicher vorstellbar zu machen, skizziere ich sie hier kurz:

Die Nachbarschaft, wie wir sie vorschlagen hat nicht bloss mit Freizeitaktivitäten zu tun, sondern sie ist ein logistischer Terminal, ein hauswirtschaftliches Modul, eine relokalisierte Bündelung verstreuter Lebensfunktionen, kurz: was man heute ein Aparthotel nennen würde.

Dazu muss sie relativ gross sein – um die 500 BewohnerInnen, 200 Wohnungen. Wichtig ist ihre Verknüpfung mit einer landwirtschaftlichen Fläche von ca. 80 ha im Umkreis von 20 bis 50 Kilometern. Zur Grösse möchte ich nur ein paar Stichworte geben: für eine soziale Stabilität braucht es eine gewisse minimale Grösse. Damit Kommunikation gelingt, darf sie nicht zu intim sein, es müssen sich interne Gemeinschaften bilden können. Andere Vorteile betreffen die Bereiche Betriebswirtschaft, Arbeitsteilung, Ökologie, bestehende Strukturen, eventuelle Bauökonomie.

Dafür braucht es ein Lebensmitteldepot von rund 400m2 und eine grosse Küche. Die Frage stellt sich: warum müssen wir uns jetzt auch noch auf dieser Ebene selbst mit Lebensmitteln versorgen? Das hat mit der besonderen Eigenschaft der Landwirtschaft zu tun, die eigentlich kein Wirtschaftszweig ist – und als solcher auch schlecht funktioniert, sondern eher mit der Kindererziehung verglichen werden kann. Die Herstellung von Lebensmittel gehört zur Care-Economy, wie ortoloco das betont. Diese Sorge für Boden, Pflanzen und Tiere kann nur in erster Person wahrgenommen werden, sie kann nicht ganz delegiert werden. Zudem ist die vertragslandwirtschaftliche Anbindung von Bauernbetrieben an urbane Nachbarschaften logistisch ideal. Es geht um ein Umsatzvolumen von (heute) 1,5 Millionen Franken, um ein Transportvolumen von knapp einer Tonne pro Tag. Aber das ersetzt eine Logistikkette, die heute über Verteilzentren, energieintensive Supermärkte, den Weg zu diesen usw. reicht.

Ein solches Mikrozentrum nimmt eine Fläche von etwa 1200m2 ein. Es bietet eine lockere Soziallandschaft mit verschiedenen Funktionen, mit Nischen und mehreren ein- und Ausgängen. Man kann sich treffen oder aus dem Weg gehen.

Das Mikrozentrum ist nicht eine Kollektion von Kleinbetrieben, sondern direkt Teil der Genossenschaft. Sie wird von Geranten und Freiwilligen betrieben. Es geht also nicht um eine nostalgische Wiederbelebung des Kleingewerbes, dessen Zeit unwiderruflich vorbei ist. Welche Metzgerstochter will heute noch Metzgerin, welcher Bäckerssohn noch Bäcker werden? Eine kleingewerbliche Logistik würde zudem unendliche Zielkonflikte zwischen Konsumenten und Inhabern provozieren und eine Profitlogik gerade dort einführen, wo schon lange keine Profite mehr gemacht werden können.

Diese neue Nachbarschafts-Institution bietet etwa den Komfort eines Viersternhotels. Ein grosses Zimmer, geheizt, Dusche, Balkon, gediegene Ausstattung. (Man kann diese Zimmer auch zu kleinen Wohnungen zusammenschliessen – falls man dem eigentlich abwegigen Konzept Wohnung noch etwas abgewinnen kann.) Sie hat vielleicht sogar einen internen Swimming-Pool, wie die Sargfabrik in Wien oder die Siedlung Halen bei Bern, diverse Lounges, Bibliotheken, einen Gourmet-Shop mit Take-Away, einen Computerraum, eine Wäscherei, Coiffeur, Billard, Fumoir und Humidor, einen reichhaltigen Kostümverleih für Alltag und Feste – gleicht also einem Hôtel Particulier des Ancien Régime in Paris – Place des Vosges passt gut als Bild. Uns schwebt die neue ökologisch-klassische Periode vor. Das ganze Potential dieses Modells zeigt sich, wenn man sich vorstellt, dass es ja nun alle 200 Meter ein solches Mikrozentrum gibt, und ein Austausch unter ihnen frei möglich ist. 

Es gibt hier jeden Tages frisches Gemüse, 40 Tomatensorten, Eier von glücklichen Hühnern und noch glücklicheren Bauern, frisches Brot, genug Zeit für neue Rezepte, neue Soufflés, neue Pasteten, neue Würste. Wie eine junge Köchin im Blick jüngst sagte: die perfekte Karotte ersetzt den langweiligen Kaviar. Aus Suffizienz wird ein neuer Luxus. Wenn man’s richtig macht.

Um etwas illustrativer zu werden, haben wir versucht eine Modellnachbarschaft zu skizzieren, die als ein Biotop eines nicht-konsumistischen Lebensstils funktionieren könnte. Für Details verweise ich auf diese erste Broschüre. Wie auch Tim Jackson in seinem Buch betont, ist der Konsum heute kaum mehr wesentlich eine Form der Bedürfnisbefriedigung. Er muss andere Funktionen übernehmen, wie zum Beispiel Status zu markieren oder Dazugehörigkeit auszudrücken. Statt unsere Persönlichkeit direkt gegenüber wirklichen Menschen darzustellen, bietet der Konsum Ersatzmöglichkeiten: Ich bin nun plötzlich ein iPhone-Typ, eine Prada-Frau, ein BMW- oder halt Dacia-Fahrer. Als Dacia-Fahrer bin ich praktisch ein zweiter Che Guervara. Dieses Bedürfnis: Dazugehören, ist für ein menschliches Leben unverzichtbar. Wir können von drei Faktoren ausgehen, die ein Leben lebenswert machen: bei sich selbst (sich akzeptieren, sich sicher fühlen) sein, bei der Sache sein (eine Interesse haben, etwas können) und bei den Leuten sein. Das Bei-den-Leuten-sein braucht aber einen garantierten Ort. Dieser Ort muss nahe, unkompliziert und einfach gegeben sein, aber doch nicht allzu intim, so dass er nicht das Bei-sich-selbst-sein erstickt. Unser Angebot wäre: eine reichhaltige, multifunktionale Nachbarschaft, eine Bühne für den täglichen Auftritt, eine Lebenswerkstätte, wo man bei sich, bei der Sache und bei den Leuten zugleich sein kann. So kann der hedonistische Ausstieg (wie es Tim Jackson nennt) aus dem Konsumismus gelingen: statt einer eindimensionalen Konsumsucht schaffen wir eine Genusskultur, die zugleich kontemplative, kreative und konviviale Dimensionen enthält. Für ältere Menschen kann dieser hedonistische Ausstieg aus dem reinen Konsum kleine, für jüngere eher grosse Partys bedeuten – wie wir sie in Bern erlebt haben. Eigentlich ist das die alte Formel von Epikur: ein Garten, viele Bücher und gute Freunde. Dieser neue soziale Luxus kann mit lokaler Kooperation erreicht werden. Und er ist global verallgemeinerbar – ganz gemäss Kants Maxime. Er könnte einen Ausweg darstellen. Wir hätten dann einen Faceroom – mit Sofa - statt nur ein Facebook.

Die alles entscheidende Frage ist natürlich: würden Sie da einziehen?

Vielleicht würden sie auch gerne da ausziehen, weil die Nachbarschaft nebenan oder in Berlin Ihnen eher passt.

Je nach dem eignen Sie sich für einen Lebensstil, der auf Suffizienz beruht oder eben nicht.

Die oben beschriebene Nachbarschaft würde heute einen Energiebedarf von 1008 Watt erfordern.

Hier sehen sie auch, dass die oben erwähnte Schiffsreise eingeplant ist.

Als jüngst von der 1000 Watt-Gesellschaft gesprochen wurde, wurde das Schreckensbild einer Rückkehr in die Steinzeit an die Wand gemalt. Ich finde, 1000 Watt ist sehr komfortabel. Mindestens drei Mal besser als in meiner Jugend in der fünfziger Jahren, wenn man erfolgte Effizienzsteigerungen einrechnet.

Ohne diesen ersten Kreis einer auf den Commons basierten Gesellschaft hat der ganze Rest kein Fundament und er stürzt immer wieder ein. Ohne diesen elementaren demos (Gemeinde) gibt es keine Demokratie. Der wesentliche Punkt beim Umbau unserer Siedlungen zu multifunktionalen Nachbarschaften ist daher die Partizipation der Genossenschafter in erster Person. Wenn es den Menschen nicht einleuchtet, dass ihre Mitwirkung in diesem Kreis wichtig, ja schicksalsentscheidend, ist, dann degenerieren Nachbarschaften zu Verwaltungseinheiten, und geht die demokratische Essenz verloren.

Die Partizipation kann jedoch nicht erst nach der Einrichtung von Nachbarschaften beginnen, sie ist vorher schon unabdingbar. Nur wenn man etwas selbst bestimmt und gemacht hat, identifiziert man sich damit. Eine lebendige Nachbarschaft ist das Resultat einer Geschichte. Was wir brauchen ist so etwas wie eine Neubesiedelung der Schweiz. Eine der Aufgaben von Neustart Schweiz besteht gerade darin, wieder Menschen zusammenzubringen, die bereit sind für einen partizipativen Prozess. Bei der Motivation zur Mitarbeit im Kleinen ist eine Motivation, die sich aus dem ganz Grossen nährt, unentbehrlich. Wir bauen die Welt um, und Du stehst dann im Lebensmitteldepot und schleppst die Gemüsekisten herum. Für weniger machst Du’s nicht lange.

Doch nun zurück zur Schweiz: gibt es nun doch so etwas wie einen Aufbruch? Ist er überhaupt sinnvoll? Und warum gerade in der Schweiz?

Es wäre tatsächlich illusorisch sich eine auf Commons und Genossenschaften basierte Schweiz mitten in einer unveränderten Welt vorzustellen. Isolation und Zusammenbruch wären programmiert. Doch die Diskussionen und Initiativen, die in diese Richtung gehen, finden heute überall auf der Welt statt. Die in der occupy-Bewegung Aktiven in den USA sehen die Commons als Alternative. David Graeber, der Guru der occupy-Bewegung, redet von Commonsismus. Nicht zufällig ist Commons ein englisches Wort, das mit Gemeingüter nicht ganz korrekt wiedergeben werden kann. Genossenschaftliche Bewegungen in Südamerika gehen in diese Richtung, in Kolumbien, in Venezuela. Vielleicht könnte sich sogar Kuba mit einen dreiteiligen Commons-Konzept aus seiner Sackgasse befreien. Das Problem ist heute nicht, dass die Schweiz zu weit vorn ist, sie liegt zurück. Solange wir zu den Gewinnern der neoliberalen Finanzialisierung gehören, halten wir uns eben vornehm zurück.

Was wir heute beobachten, ist ein weltweites Seilziehen zwischen der Commons-Partei (dazu gehören nicht nur Genossenschaften, sondern eben auch Staaten) und dem alten oligarchisch bestimmten Finanzkapital. Es braucht nicht viel, und der Koloss stürzt. Ein deutliches Symptom dafür war, dass die Finanzpartei 4 Milliarden Euro zu einem Zins von – 0,07 Prozent in deutschen Staatsanleihen angelegt hat (8.1.2012). Das heisst: die Sicherheit ist den Kapitaleigentümern inzwischen wichtiger als der Profit. Das heisst: sie sehen ihre Sicherheit als akut bedroht an. Wer bedroht sie aber: das Bestehen auf den Commons. Die Leute wollen leben, und scheren sich nicht mehr um Schulden, Profite und Kapital. 

Was wir heute brauchen, sind also vor allem gute Nerven. Die Angriffe auf unsere kollektiven oder staatlichen Commons müssen abgewehrt werden. Die grösste Bedrohung für die Oligarchien sind nicht Revolutionsaufrufe, sondern zäher Reformismus. Als Parole gilt: Durchhalten. Jede Privatisierung einer Buslinie, einer Stromversorgung, jede Kürzung von Sozialausgaben, muss einzeln bekämpft werden. Initiativen zur Förderung der Genossenschaften, wie jene, die vom svw Zürich lanciert wurde, müssen unterstützt werden. Das klingt zwar nicht besonders aufregend, wird aber entscheidend sein.

Eine zweite Handlungsmöglichkeit besteht darin, möglichst viel von der Postwachstumsgesellschaft zu reden. Ich sage wirklich: reden. Die Verfechter des Wachstums fürchten sein Ende so sehr, dass sie schon das Reden darüber für gefährlich halten. Die Kapitalverwertung beruht zu einem nicht geringen Teil auf Kredit, dieser auf credo, Glauben. Wenn der Glauben zerfällt, fällt der Koloss. Also darüber reden: Décroissance, Postwachstumsgesellschaft. Jeden Tag drei Mal.

Als eine dritte Strategie sehe ich, was Sie vielleicht unmittelbar betreffen könnte, darin, dass Elemente des neuen Betriebssystems noch unter den Bedingungen des alten installiert werden.

Wenn wir heute bauen, sollten wir nicht Häuser, sondern Commons-taugliche Nachbarschaften bauen. Das gilt für die Grössenordnung, für eine kommunikative Anordnung der Bauten, für die Gestaltung der Erdgeschosse. Die oben erwähnten Mikrozentren können heute schon, vielleicht mit kommerzieller Funktion, eingebaut werden. Sie können heute auch, wie das in einzelnen kommerziellen Modellen, wie z.B. ecofaubourg, geschieht, als Mehrwert für die Bewohner verkauft werden.

In 99% der Fälle wird es jedoch nicht um Neubauten, sondern um einen möglichst einfachen, vielleicht sogar improvisierten, Umbau bestehender Siedlungen gehen. Wir haben nicht mehr die Ressourcen für eine vollständige ökologische Sanierung aller Bauten.

Schon Elinor Ostrom weist darauf hin, dass Institutionen des Commons sich zwar selbst verwalten, aber doch an weitere Kreise gebunden sein müssen, damit sie nicht aus ihrer Lebenswelt heraus abdriften und sogar noch einen schädlichen Kollektivegoismus entwickeln.

Das gilt schon beim Umbau unserer Nachbarschaften. Es ist nicht denkbar, dass aus bestehenden Siedlungen aus eigener Kraft funktionierende Nachbarschaften werden können. Dafür ist die Lebenswelt, die sich dort installiert hat, viel zu stark und träge. Es wird die Gemeinden und die Kantone brauchen, die es den Bewohnern erlauben sich neu zu konfigurieren. Es wird ein nationales Umbauprogramm brauchen. Wenn man einmal 5 Millionen Franken pro Nachbarschaft einsetzt, dann kommt man auf 70 Milliarden. Das tönt gigantischer, als es ist, denn es können auch normale Ausgaben für Sanierungen und Renovationen dafür eingesetzt werden. Sinnvollerweise könnte dafür auch ein Teil unseres 700 Milliarden schweren Pensionskassenvermögens verwendet werden. Wenn Pensionskassengelder in Commons-taugliche Nachbarschaften investiert werden, heisst das ja nicht, dass sie heute weniger rentabel sind. Es heisst aber auf jeden Fall, dass sie auch nach einem Renditenkollaps, wenn es keine Renten mehr gibt, zur Existenzsicherung beitragen. Schliesslich wird ein solcher Umbau mindestens zwanzig Jahre in Anspruch nehmen, was die Kosten noch einmal verteilt. Worauf es ankommt, ist, dass dieser Umbau als notwendig, sozusagen als Sachzwang, verstanden wird. Neustart Schweiz macht Werbung dafür und versucht zugleich konkrete Ansatzpunkte zu finden. Die Politik ist gefordert hier eine Wende zu vollziehen.

Inspirierend könnten Modellnachbarschaften sein, in jeder grossen Stadt eine, die als Bauausstellung funktionieren. Etwa so, wie es sich Max Frisch vorstellte, oder wie wir es im Projekt Rostkreuz erfolglos probiert haben. Oder wie die Regiogruppe Basel von Neustart Schweiz es im Rahmen der IBA 2020 vorschlägt. Oder so, wie Mehr-als-Wohnen in Zürich es versucht. Es ist eine nächste Expo in der Ostschweiz geplant, die ausdrücklich auch später nutzbare Bauten vorschlägt.

Weitere Aktionsfelder erwähne ich nur: ausgebaute Quartierzentren in Velodistanz, eine Raumplanung, die commons-tauglich ist, die Gestaltung eines Territoriums, das relokalisiert nachhaltig funktionieren kann. Ein solches Quartier würde 10 bis 40 Nachbarschaften umfassen und als erste Filiale der öffentlichen Dienstleistungen fungieren.

Dieses Commons-Modul muss relativ gross sein – um die 15'000 Bewohner – damit es eine genügende Palette von öffentlichen Dienstleistungen bieten kann. Ein ähnliches Konzept sind Agroquartiere, also Stadtquartiere, die direkt mit dem angrenzenden Land verknüpft werden. Ideen gibt es dafür in Genf und für den Flughafen Dübendorf.

Die nächste Einbettungsstufe sind Regionen, etwa sieben in der Schweiz. Hier schliesslich eine Vorstellung des schweizerischen Territoriums. Wichtig ist hier die Wiederherstellung der Spannung zwischen einer Technozone und einer Art Abenteuerpark in den Alpen. Da kann man sich dann Ferien in Afghanistan sparen. Merkwürdigerweise widerspricht all dies den Konzepten des Bundesamts für Raumplanung überhaupt nicht. Die Entwicklung läuft lediglich in eine entgegengesetzte Richtung.

Für einen Amerikaner wäre die Schweiz eine Gartenstadt namens Genfhorn, mit einem verdichteten, urbanen Korridor und einem Central Park in der Mitte. 

Damit bin ich wieder zurück am Anfang. Schafft die Schweiz endlich einmal einen Neuanfang, einen Aufbruch? Zuerst einige Gründe dagegen:

Unsere politischen Parteien sind samt und sonders verängstigte Kaninchen, die vor der Kobra Finanzkapital kuschen. Von ihnen sind keine Ausbrüche zu erwarten, nicht einmal von der Linken. Bestenfalls wird der Chimäre nachhaltiges Wachstum nachgerannt. Keine der bestehenden Parteien würde eine Commons-Strategie, so wie ich sie skizziert habe, vertreten wollen.

Die NGOs haben sich alle in sektoriellen Problemstellungen eingerichtet und melden sich auf Knopfdruck, wenn es einmal um Windenergie, Kulturland oder Bio geht. Sie treffen sich zu Foren und gehen zufrieden und gut vernetzt nach Hause.

Die so genannten Bewegungen machen viel Lärm und verschwinden dann wieder. Sie setzen Zeichen, erreichen aber keinen nachhaltigen Impuls.

Für einen Aufbruch setzt man traditionell auf die Jugend. (Ja, die Alten setzen auf die Jungen – die Jungen selbst viel weniger!) Was will die Jugend? Was macht sie? Wir haben einige Jugendbewegungen gehabt, alle konnten sie kommerziell befriedet werden. Ich schliess mich da nicht aus. 68, 80, 011 – wo sind sie alle? Die Frage ist natürlich nicht, ob sich etwas bewegt, sondern wohin. Von der Jugend per se sind keine neuen Antworten zu erwarten. Manchmal ist sie konservativer als die Alten.

Für die Schweiz, geschweige denn ihren Aufbruch, ist schlicht niemand zuständig. Da nützt es auch nichts, wenn Leute wie Adolf Muschg, Peter von Matt oder auch Peter Bichsel sich hie und da wieder als zuständig erklären.

Ich glaube, die Suche nach dem ersehnten Aufbruch führt nirgendwo hin. Er ist eine mediale Fixierung. The revolution will not be televised, sang Gil-Scott Heron schon 1970. Wir werden nie eine Schlagzeile sehen: «überraschender Aufbruch in der Schweiz».

Seine eigene Verantwortung an einen allgemeinen Aufbruch delegieren zu wollen, ist eine Form der Selbstverhinderung. Gewinnen wollen selbst ist schon ein Teil des alten Betriebssystems. Es soll ja weder Gewinner noch Verlierer geben. Ein Aufbruch ist nicht wünschbar, er ist zerstörerisch, er ist eine Form der gloriosen Implosion.

Ich bin für das zähe Weiterarbeiten. Wir sind nahe dran. Aber wir können es nicht in unseren Terminkalender eintragen.

Wir brauchen für einen Neustart keine Visionen – er ist ein nüchterner Sachzwang. Es wird einen Neustart geben, aber wir werden es vielleicht nicht merken, wenn er erfolgt ist. 

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